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Der langangehaltene Atem
Venezuela kommt, um mich
zum Shopping abzuholen, besteht dann aber darauf,
mit mir Stimmübungen
zu machen. Es ist so ein SONNIGER Tag! ruft sie und
reißt das Fenster auf, um verschiedene Verkehrsgeräusche
einzulassen. Hörst du diese Amsel? Sie singt,
als wäre es Frühling. Oder ist es Frühling?
Die Stimme, das Zwerchfell, sagt Venezuela, wir müssen
alles öffnen, und natürlich hat sie eine
Ausbildung in Logopädie und verschiedene Kurse
in Atemtechnik und Yoga und Tantra gemacht, wahrscheinlich
tut sie keinen Atemzug ohne wissenschaftlichen Grundsatz
oder fernöstlich fundierte Philosophie. Ich
soll mitatmen, so wie sie mir voratmet, ich soll
aus dem Bauch und aus der Lunge und aus dem Kopf
singen, ich soll Vokale an Konsonanten knüpfen
und von innen vibrieren und mitschwingen, ich soll
mein ganzes Gesicht spüren und alle Resonanzkörper
und Tonhöhlen, ich soll so frei und natürlich
wie die Amsel singen, ohne Verklemmung und Zwang.
Venezuela trägt ein winterdickes Samtkleid,
schwarz und mit Paisley-Relief bis zu den Knöcheln,
so ein Kleid, wie ich es in hunderttausend Boutiquenexpeditionen
niemals finden würde, es flüstert über
ihren urtonerzeugenden Brüsten und Hüften,
eine Firmamentkulisse, ein hoher Tempelsockel, ich
erwarte eine Arie der Königin der Nacht. Ich
soll den obersten Knopf meiner Jeans öffnen,
ich soll die Zigarette ausdämpfen, ich soll
in mir nach einem Gefühl wühlen, ich soll
jodeln und schluchzen und brummen und schreien. Ich
lache. Meine Rippen klammern sich eng aneinander.
Mein Lachen schnaubt durch die Nase, enthält
einen abgebrochenen Mond-Ton, wirbelt Zigarettenasche
auf. Venezuela gerät in eine Zungenverzückung
und schlüpft in verschiedene Kirchen, wird pfingstwild,
zittert, ist Adventistin, wir schreiben das Jahr
1844, wir erwarten die Wiederkehr Christi und das
Ende der Zeit. Ich höre einen Sonnengesang,
ich höre Tierstimmen, Filmstimmen, die gespaltenen
Stimmen der Dämonen, ich höre das Blutgurgeln
unter den Nähten der Narben, ich höre das
Engelszirpen, Infraschwingen, den Schallmauerfall.
Ich hyper sage ich, ich hypervieliten sage ich, ich
hypertentilisiviere. Venezuela schließt das
Fenster. So habe ich früher gesprochen, sagt
sie plötzlich in einer fremden Männerstimme,
in der Pubertät sind meine Stimmbänder
so aufgespannt worden. Aber, fügt sie in ihrer
Venezuela-Stimme hinzu, später habe ich meine
wirkliche Stimme gefunden. Ich nehme das Feuerzeug,
halte die Flamme an das Zigarettenende, mache um
den Filter einen runden Mundschluß, schaue
in die Flamme und sauge sie durch den schützenden
Zigarettenhalm ein. Die Amsel singt durch das geschlossene
Fenster. Wie heißt das, frage ich, dieser unaussprechliche
Name Gottes, der aus vier Buchstaben besteht? Und
soll ich mir einen von diesen Pullovern, frage ich,
mit diesem Flaumfedereffekt kaufen, du weißt
schon, mit diesem Federboaeffekt, so daß man
aussieht wie ein schmucküberzüchtetes Hühnchen?
Tetragrammaton, sagt Venezuela, bei dir hat man immer
das Gefühl, daß du außer Atem bist,
daß du keine Luft kriegst, eigentlich: daß du
den Atem anhältst. Ja, antworte ich, ich halte
den Atem schon seit sehr langer Zeit an.
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