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"Krankengeschichten"
Karl-Markus Gauß in der Neuen Zürcher
Zeitung, 24. Dezember 1996:
Die 1966 geborene Bettina Balàka hat vor zwei
Jahren mit dem Lyrikband "Die dunkelste Frucht" debütiert
und jetzt im Droschlverlag ihren bemerkenswerten
Prosaerstling folgen lassen. Die neun "Krankengeschichten" sind
insistierende Versuche, aus dem Zentrum des Schmerzes
heraus zu schreiben, der Krankheit selber eine Sprache
zu geben. Es geht also weder um klinische Sozialkritik
noch um das bewährte Genre der Ärzteprosa,
sondern um Krankheits- und Selbsterkenntnis mittels
Sprache.
Die Ich-Erzählerinnen der hochmusikalischen
Geschichten sind Kranke, die die Irritationen des
Körpers wie der Seele sprachlich fassen und
sich so selber innewerden möchten. Durch ihre
Krankheit aus der Gewohnheit gestürzt, bedeutet
Sprachfindung für sie freilich meist Sprach-Erfindung,
denn es sind ihnen keine Sätze für ihre
Leiden zuhand, keine Worte, die bezeichnen und übermitteln
könnten, was mit ihnen geschieht und in ihnen
vorgeht. Tatsächliche wie halluzinierte Schmerzen
sprachlich zu bannen, gelingen Bettina Balàka
betörende Formulierungen und manch erschreckende
Bilder. In der ersten Erzählung bestimmt eine
auf das Pflegebett verwiesene Frau ihre Existenz
so: " doch gewendet werde ich wöchentlich
oder beim waschen. alles weiße an den schwestern
ist hart und hilft ihnen beim heben. mit ihren flachen
spachtelhänden lösen sie mich wie ein spiegel-ei
aus der pfanne. manchmal sind hautteile festgewachsen
am tuch."
In den anderen Krankheitsgeschichten geht es um den
unaufhaltsamen Verlust an körperlicher Kraft,
um Fieberanfälle, Narben oder den Besuch bei
der Frauenärztin, der gynäkologisch grob,
doch erzählerisch heiter verläuft: "es
gibt spanier, sagt man, die sagen, das schönste
auf der welt ist ein stier und eine frau. man sagt
nicht, es gibt spanierinnen, die sagen, das schönste
auf der welt ist ein mann und eine kuh." Zum
Schluß kommt Bettina Balàka auf die
Allergie zu sprechen, die ihr als medizinisches Signum
der Epoche gilt; diese krankhafte Reaktion des Körpers,
der einen Stoff, ein Lebensmittel nicht verträgt;
die Erzählerin diagnostiziert sie in so verschiedenen
Varianten wie der Schwiegermutter- oder der Geldscheinallergie,
und da die Allergie immer gegen etwas auftritt, gegen
den Zustand der Welt rebelliert, wird sie schon fast
als biologische Form des Widerstands gepriesen.
Kathrin
Glosch in Script 10/1996:
Der Titel ist in Anführungszeichen gesetzt.
Eine Selbstbegrenzung. Ein Zitat. Ein nahezu beiläufiger
Hinweis, die Titelsemantik nicht als unbeschriebenes
Etikett, sondern als Folie zur Interpretation der
neun Erzählungen heranzuziehen. Krankengeschichten,
nicht aber Krankheitsgeschichten sind es, die Bettina
Balàka wie seltene Perlen zu einer Kette
aneinanderreiht. Es geht hier nicht um Anamnese,
Diagnose und Therapie, sondern um Gegebenheiten.
Es geht nicht um Krankheit, sondern um Erkrankte
und Kranke. Wenn diese jedoch keine differenzierbare
Identität erhalten, sondern stets als weibliche
Ich-Erzählerinnen auszumachen sind, dann geht
es nicht einmal mehr um Erkrankte und Kranke, sondern
um den Zusammenhang von weiblicher Identität
und Erkrankung - und die muß nicht zwingend
organisch oder mental sein. Die Frau ist hier gleichsam
spiegelnde und bespiegelte Projektionsfläche
auch eines gesellschaftlichen Unwohlseins, das
die Andersartigkeit nie aus den Augenwinkeln läßt.
Diejenige Erzählung, die den Schattenreigen
der Ausgrenzung eröffnet, ist "Mit einem
Diktaphon durch die Straßen" betitelt
und beschreibt nicht Krankheit selbst, sondern
die lange Liste der Desiderate, die aus ihr resultieren.
Es ist ein Verzeichnis derjenigen Dinge, die man
tun könnte, läge man nicht als hilfloser
Körper in einem Bett, angewiesen auf fremde
Hände, fremden Augen ausgeliefert. Die nicht
erreichbare Welt wird durch die Distanz zu einer
Vielzahl von Wahrnehmungsorten: Stadt, Dorf, Wald,
Wasser, Café und Fest, während der
Körper als eigener Ort wieder von der Natur
zurückerobert wird: "doch mein bett ist
eine insel und ich ihr faulender und austreibender
bewuchs. die korrosion der knochen wechselt täglich
ihre farbe. zwischen den gelenken nisten sich wie
in felsspalten kleine organismen ein." Diese
an Lautréamont angelehnte Motivik, wie im
gesamten Buch versetzt mit botanischen, medizinischen
und veterinärmedizinischen Bildern, die Authentizität
und Faktizität sichern sollen, weist nur versteckt
auf einen Identitätsbruch hin. Und doch scheint
in jeder Geschichte die Ablehnung auf, die das
Ich von einem Gegenüber, einem Anderen erfährt,
so z.B. in der problematischen Beziehung zum Vater,
die in vielen der Texte thematisiert wird. Zweifellos
am treffendsten, unmittelbarsten sind diejenigen
Geschichten, in denen die Protagonistinnen ihre
oft mythische, bildhafte Eigenwelt verlassen und
zu einer Umwelt, zu anderen Personen in Beziehung
gesetzt werden. So erhält der unberechenbare
Kraftverlust der Protagonistin in "Sterben,
nicht stören" gerade dadurch Plastizität
und Kontur, daß die Reaktionen von Mann und
Sohn ebenfalls reflektiert werden. Die Auslieferung
in einer Welt, in der sich Handbremsen nicht mehr
anziehen und Telefone nicht mehr abheben lassen,
wird umso größer, als die Beobachter
dieser Schwäche sie noch steigern oder gar
erst entstehen lassen. Gerade diese Opfer-Täter-Konfrontation
begründet auch die Qualität von "Rohypnol",
in der eine 18jährige zwei Männern ausgeliefert
ist, hinter deren gesellschaftlich wohlsituierter
Fassade vielfältige Facetten von verbaler
und körperlicher Gewalt dominieren. Günther,
der die vermeintliche Frigidität der Protagonistin
in Nymphomanie zwingen will, agiert mit körperlicher
Gewalt, während Peter, der sich von allen
Frauen ausgebeutet fühlt, sich der Protagonistin
nach einer Verabreichung des Anästhetikums
Rohypnol bemächtigt. Über den Spuren
von Demütigung, Erniedrigung und Vergewaltigung
liegen die zahlreichen Arztbesuche zur Bezähmung
und Bezwingung der widerständigen Zähne
- gemäß der Traumsymbolik ein langsamer,
qualvoller Tötungsakt. Auch "Das Narbenmeer",
in dem wie in den beiden vorangegangenen Texten
die Krankheit nicht nur in die Protagonistin eingeschlossen
wird, sondern sie mit ihr argumentiert und operiert,
weist über die Materie hinaus und eröffnet
komplexe Strukturen von Krankheit und Gesellschaft.
Der Zusammenhang von Identität und Krankheit,
von Eigenwert und Abhängigkeit durchzieht
die Geschichten und konstituiert ihre Eigenheit,
Besonderheit. In "Die Sucht nach der Blume
Hel" deklassiert die verzweifelte Suche nach
der Blume eine Protagonistin, die Bittbriefe schreibt
oder ihre Existenz mit Verkleidung und Verwahrlosung
kaschiert, von ihrem Mann als freundlicher Pflegefall
präsentiert. Der körperliche Verfall
in "Der Brief", der mit dem Verlust eines
Zahnes einsetzt und in der Ablösung der Körperteile
endet, ist gleichsam die Geschichte einer Trennung
und einer Befreiung, ein Text über männlichen
und weiblichen Diskurs. Einige der Erzählungen
erinnern in ihrer Distanz/Nähe-Problematik
und dem Erleben des Körpers an Unica Zürn.
Wie bei dieser wird auch hier die Sprache als Vermittlungsinstanz
in den Text eingeschrieben: "Die Punkte sind
das, was nicht gesagt ist. Die Worte sind das,
was zuviel gesagt ist. Worüber man nicht schreiben
kann, darüber muß man Punkte machen.
Also bleibt alles, das Gesagte, das Unsagbare,
was davor sein wird, und was dahinter war, die
unmögliche Wahrheit, und die mögliche
Unwahrheit, also bleibt alles geheim."
Wenn Balàka dabei mit einer intertextuellen
Verfremdung arbeitet, so gibt sie der Sprache zurück,
was diese durch beständiges Zitieren verloren
hat. Ihren Protagonistinnen hingegen verweigert
sie die Rettung, stellt es jedoch dem Rezipienten
frei, sich von ihnen zu distanzieren oder sich
mit ihnen und ihren (Gesellschafts-)Erkrankungen
zu i(de)n(ti)fizieren.
Manfred Chobot in Podium
102/1996:
Im Zentrum Körper und Empfindungen einer
Frau fungiert die Krankheit zugleich als Metapher
und Sublimation subjektiver Wahrnehmung. Dinge,
die "draußen" geschehen, unterscheiden
sich grundlegend von jenen, die sich "innen" ereignen,
die Gleichzeitigkeit ist bloß scheinbar und
läßt sich nicht zur Deckung bringen,
unvereinbar die Gegensätze, weshalb rund niemals
eckig werden kann. Liegen die Kanten zwar offen,
tarnen sie sich doch mit einer zynisch-ironischen
Hülle, denn sowohl durch Witz als auch sprachliche
Souveränität zeichnen sich Bettina Balàkas "Krankengeschichten" aus.
Die Technik des Filmschnitts wird von der bildlichen
auf die verbale Ebene übertragen: einer Bildfolge
wird ein konträrer Blickwinkel gegenübergestellt
und derart die Optik erweitert. Als thematische
Klammer hält der Gegensatz von Frau und Mann
die neun Erzählungen des Bandes zusammen.
Ilse
Kilic in AUF 95/1997:
Literatur als Krankengeschichte?
Diese Interpretation will der lakonische Titel von
Bettina Balàka
nahelegen - und der Titel behält recht: es
sind die Geschichten der Bedürftigen, der
Schwachen und Allergischen, der Betäubten
und Mißbrauchten, die Bettina Balàka
erzählt. Diese Geschichten sind durchzogen
von der leisen Melancholie der Verlierer und Verliererinnen,
aber auch vom leisen Triumph derer, die Bescheid
wissen, die aus diesem Bescheid wissen Kraft und
Stärke beziehen. So weiß die Allergikerin
um die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes gegen die
Allergie, hinter der sich mehr versteckt als eine
simple Unverträglichkeit. Dennoch kann sie
nicht umhin, diesen Kampf weiter zu kämpfen
und ihre permanente Niederlage sowie die Niederlagen
der MitkämpferInnen ironisch zu kommentieren
- eine Ironie, die darauf hinweist, daß es
keine einfachen Antworten gibt. Neun Geschichten
sind es, in denen davon geschrieben steht, was
einer in dieser Welt widerfahren kann: von der
leidigen Pilzinfektion, die eine wahrlich virtuose
Assoziationsflu(ch)t zum Thema "Pilz" nach
sich zieht, bis zur Kraftlosigkeit, in der zwar
Lebenshaltung und wohl auch geheime Widerständigkeit
steckt, die aber von den "Normalen" als
Störung und Bedrohung empfunden wird - ja
in diesem Fall zwingend so empfunden werden muß,
handelt es sich doch um die Kraftlosigkeit einer
Frau und Mutter innerhalb eines engen und auf dem
Frauenrücken drückenden Kleinfamilienidylls
von Mutter/Vater/Sohn: "Sie haben mir eine
Jahreskarte geschenkt für die Kraftkammer,
und wenn ich die Wohnungstüre erreichen kann
und die Straßenbahn und den Fitneßclub,
dann gehe ich sogar hin, dort kann ich an vielen
Geräten die Abstände verstellen, sie
richten nach mir, ich kann die Gewichte verstellen.
Das ist für alle der Beweis, daß ich
die Kraft eigentlich habe, doch die Kraft, die
ich habe in einem Moment, habe ich nicht immer,
und meine Männer meinen es lieb, sie nehmen
mir die festverschraubten Flaschen aus der Hand,
um sie für mich zu öffnen, noch bevor
ich selbst es versuche." Bettina Balàkas
Sprache beschreibt nicht nur, sondern nähert
sich ihren "Heldinnen" und Themen behutsam
von den verschiedenen Seiten an. So bietet sie
der Leserin mehr als Identifikationsmöglichkeiten,
zum Beispiel deren Erweiterung und Hinterfragung,
deren Überwindung - und, oft gleichzeitig,
die Ironie und Distanz sowie die Botschaft, daß,
um mit einem Wort von Liesl Ujvary zu sprechen: "von
zwei einander widersprechenden Aussagen nicht unbedingt
die eine richtig und die andere falsch ist".
Helmut
Kretzl in der APA, 28. März 1997:
" man kann sich der welt kaum noch aussetzen,
sie ist voll: von pestiziden, herbiziden, suiziden,
von toxinen und erstickenden oxiden und schwermetallen
und staub, sie überschreiten die richtwerte,
sie werden zu richtschwertern. der körper
wehrt sich, er bildet wehrhafte substanzen, enzyme
und antikörper, der körper ist mit anikörpern
bewehrt." Diese Passage kann als Programm
für die neun "Krankengeschichten" der
Salzburger Autorin Bettina Balàka verstanden
werden. Auf 114 Seiten beschreibt sie Pathologien
des Alltags und schildert nicht nur die Leiden
und Defekte des einzelnen Organismus, sondern der
gesamten Gesellschaft.
Bettina Balàka, Trägerin des Rauriser
Förderungspreises 1992 und des Alfred Gesswein-Preises
für Lyrik 1994, unternimmt in ihrem zweiten
Buch nicht nur eine inhaltliche Gratwanderung zwischen
Pathologie und "Normalität", sondern
auch formal zwischen Prosa und Lyrik. Die mit autobiografischen
Bezügen versehenen Texte ihres neuen Buches
sind vielfach im Grenzbereich zwischen physischen
und psychischen Krankheiten angesiedelt. Die Botanisiertrommel
der Leiden ist gefüllt mit Allergien, Vergiftungen,
Schwächeanfällen, Krebsgeschwüren,
ebenso mit Süchten, Hysterien, versuchten
bzw. gelungenen Selbstmorden oder der "Verernstung" der
Menschen.
Manches geht darin über die unmittelbar erlebbare
Wirklichkeit hinaus. Etwa die panische Angst jener
Frau, die fürchtet, sie sei nur ein Gedankenprodukt
("wer weiß, vielleicht braucht nur etwas
anderes etwas anderes denken, und es gibt mich
nicht mehr, oder ich selbst denke mich in den Tod").
Oder die Erlebnisse jenes Reisenden in einem fernen
Land, der zuerst von einem magischen Pfeil getroffen
und anschließend von einer Unzahl von Ameisen
("es gibt hunderte aber und tausende Arten
von ihnen") heimgesucht wird. Die Folgen sind
fatal: "Stechende, giftige Ameisen, die eindringen
wie Worte oder Ereignisse und ihre Gänge bauen,
den Organismus verseuchen bis zum Aufplatzen und
Ausfallen der Organe, bis zu seinem schockartigen
Tod."
Als erfolgversprechende Heilungsmöglichkeit
bietet sich immer wieder die Sprache an. Doch selbst
sie entpuppt sich als zweischneidiges Schwert: "Es
ist so, daß schon Gedanken mich stärken
oder schwächen, oder Worte und bestimmte Wortfolgen,
daß vielleicht ein einziger Gedanke genügen
könnte, mich zu töten." Wie die
beschriebenen Figuren wird auch die Sprache selbst
mitunter vom Fieber geschüttelt, bäumt
sich dazwischen aber immer wieder kraftvoll auf.
Echte Heilung gibt es in dem Buch nicht. Als am
wenigsten destruktive Form, mit den allgegenwärtigen Übeln
umzugehen, erscheint der Rückzug ins Private,
das vielzitierte "Cocooning" im unmittelbaren
Wortsinn: "Ich spinne mir einen Kokon aus
silbernen Fäden, hinter dem niemand erkennen
kann, was geschieht, welch schmerzhafte, schreckliche
Transformation, aus der nie etwas Ansehnliches
wird, immer nur ein Zurückbiegen und Auswuchern
in sich selbst, während sie alle danebenstehen
und stöhnen: Himmel, wird denn da nie ein
Schmetterling daraus, der liebreizend ist und bald
stirbt".
Gabriele Heidötting in
Hundspost 7/1997:
" Mir ist klar, daß ich die Kräftigen
störe mit meiner Kraftlosigkeit. Aber ich
bin eben krank und es ist nicht einmal sicher,
ob sie mir das glauben, denn das gibt es doch nicht,
wenn eine alle Arme und Beine hat mit Muskeln daran,
daß sie dann nicht einmal den Schlüssel
umdrehen kann im Schloß. Und eine halbe Stunde
später kann sie es doch wieder, das ist nicht
normal", schreibt die Wiener Autorin Bettina
Balàka in ihren "Krankengeschichten".
Was nicht normal ist, das muß versteckt,
verborgen, getarnt werden. Darum geht es in Bettina
Balàkas Erzählband.
Neun kurze Geschichten, die das Versteckte ans
Tageslicht bringen und in lyrischer, einfühlsamer
Prosa zeigen, daß da ein Riß ist zwischen
der Welt der normalen Gesunden und der Welt der
störenden Kranken. "Krankengeschichten",
das sind kurze Erzählungen, deren Protagonistinnen
vom Leben träumen und dabei ein Bewußtsein
entwickeln, das über das der "normalen" Gesunden
hinausgeht, das Fragen stellt und nach dem Unsagbaren
greift.
Balàkas Geschichten erzählen von ungewöhnlichen
Krankheiten. Da geht es zunächst um eine bettlägerige
Frau. Unbeweglich, gedreht und gewendet durch fremde
Hände in weißen Kitteln, geht sie in
Gedanken "mit einem Diktaphon durch die Straßen",
um die Wirklichkeit einzufangen und das Leben einzuholen.
Und dann gibt es da diese Frau mit einer seltsamen
Schwäche, die viel liest, "um teilzuhaben
am weltlichen Rest der Lebendigen", und die
erkennt, daß sie umsonst alles zu kontrollieren
versucht hat, da sich letztendlich das Leben ihrer
eigenen Kontrolle entzieht. Für ihren Mann
und den Sohn ist ihre Schwäche nichts weiter
als ein Spleen. Darum tarnt sie ihre tiefen Ängste
hinter einer ruhigen Stimme und täuscht Normalität
vor.
Noch seltsamer ist das Krankheitsbild jener Frau,
die zuerst einen Zahn, später dann ganze Haarbüschel
verliert und der plötzlich die linke Hand
abfällt. Doch sie schreibt mit der rechten
Hand weiter: Sie schreibt einen Brief, der niemals
den Empfänger erreicht und den sie doch als
einen "Steckbrief" empfindet, mit dem überall
im Land nach ihr gesucht wird. Ein Brief, der vom
plötzlichen Verfall, von Wahrheit und Ehrlichkeit
und einer lebendig-toten Vergangenheit spricht;
der versucht, eine "Reihe von Punkten" zu
setzen, dort, wo die Sprache eigentlich versagt.
In ihren "Krankengeschichten" läßt
Bettina Balàka ihre Protagonistinnen, die
- der Handlungsfähigkeit beraubt - auf die
Worte zurückgeworfen sind, gegen die Grenzen
der Sprache anrennen. Immer wieder wirft sie dabei
die Frage auf: "Was kann man schon tun mit
Sprache?" Mit lyrischer Kraft versucht sie,
zugleich die Grenzen der Sprache hinter sich zu
lassen. Bettina Balàka rennt an gegen die
Relativität der Wahrheit, "weil es so
viele Ehrlichkeiten wie subjektive Wahrheiten gibt".
In einer spezifischen Verbindung von Prosa und
Poesie, die stark an Virginia Woolf erinnert, schildert
Balàka die Ängste ihrer Protagonistinnen.
Mit all den unheimlichen Krankheitsbildern, die
sie ihnen dabei angedeihen läßt, unternimmt
sie den erfolgreichen Versuch, in mystischen Bildern
und Metaphern eine Ahnung des Unsagbaren zu vermitteln.
Branka
Schaller in neue deutsche literatur 3/1997:
Krankheit,
physischer Verfall und Tod sind der Literatur seit
langem günstige Themen. Bettina
Balàkas "Krankengeschichten" verstehen
die Krankheitssymptome als Indikatoren für
die Erfahrung von Wirklichkeit: von disfunktionalen
Familienstrukturen, erlittener psychischer und
physischer Gewalt und problematischen zwischengeschlechtlichen
Beziehungen. Die Behandlungsmethoden für versehrte
Körper und Seelen sind ebenfalls den Patienten
feindlich, denn Ursachenforschung wird nicht betrieben,
wenn sich der Schwund körperlicher Kräfte
bemerkbar macht.
"
Sterben, nicht stören" ist eine dieser
Geschichten betitelt, deren Ich-Erzählerin
in ständiger Tarnung und beständigem
Schauspiel ihren Alltag bewältigen muß.
Ihre Kräfte haben sie verlassen, sie lebt
in Angst vor dem Zusammenbruch, bloße Gedanken
könnten genügen, sie zu töten. Aus
den Reaktionen ihres Mannes und ihres Sohnes wird
ersichtlich, daß hier, in ihrem Familienleben,
in ihrem auf diese Zelle reduzierten Dasein als
Hausfrau, der Grund für ihren Zustand zu suchen
ist. Das Motiv des Verlusts physischer Kräfte
findet sich auch in "Das Narbenmeer",
wenn eine Tochter mit halbseitiger Lähmung
auf den Krebstod ihrer Mutter reagiert.
Balàkas Heldinnen sind gespalten in "das,
was die Welt will von mir, und das, was ich will
von der Welt", sie sind auf der Suche nach
den von Virginia Woolf beschriebenen "moments
of being", nach der ungezähmten Existenz,
die sich für eine Protagonistin in der Sucht
nach einer Blume, die diese symbolisiert, manifestiert.
Der lyrische Ton und die reiche, phantasmagorische
Bildsprache dominieren, wenn innere Landschaften
in Fiebervisionen beschrieben werden, wenn sich
Ameisenarmeen der Seele bemächtigen oder eine
Allergiekranke, deren Verhältnis zur Umwelt
von Ablehnung und selbstgewählter Isolation
geprägt ist, sagt: "ich selbst bin eine
freie radikale."
Den psychosomatischen und im Kontext dieses Bandes
aus einer jeweils spezifisch weiblichen Perspektive
geschilderten Erkrankungen versuchen diese Frauen
beizukommen, indem sie Erfahrung aufzeichnen oder
auf aufgezeichnete Erfahrung zurückgreifen. "...da
ich sie nicht registrierte, verschwände die
wirklichkeit", glaubt eine Krankenhausinsassin,
die davon träumt, mit einem Diktaphon durch
die Straßen zu gehen, um so der Welt, von
der sie isoliert ist, habhaft zu werden. Eine andere
liest, "um teilzuhaben am weltlichen Rest
der Lebendigen".
"
Der Brief oder: wie ich verfiel" verzahnt
das Thema Krankheit/Tod und Schreiben am konsequentesten:
Ein "unschreibbarer Brief", ein Steckbrief,
soll entstehen, wobei der Schreiberin die Schreibhand
abfällt. Alle Formen der Dokumentation bleiben
schließlich unzulänglich angesichts
des physischen Verfalls.
Carola Ebeling in Virginia
Frauenbuchkritik, Oktober 1999:
Neun "Krankengeschichten" erzählt
die junge Österreicherin Bettina Balàka
in ihrem gleichnamigen zweiten Buch und keine der "Krankheiten" hat
einen Namen, ließe sich einfügen in
eine Kategorie erfaßter Pathologien. Sie
besetzen den Körper, lassen ihn sich im Fieberwahn
winden, unter Suchterscheinungen verkrümmen,
seine linke Hälfte absterben. Auf diese Weise
erhält der Körper eine unausweichliche
Präsenz im Leben derer, die es gerade nicht
vermögen, ihn von sich abzuspalten, deren
Schmerzen sich nicht in einer von Wissenschaftlern
erstellten "Schmerzhierarchie" fassen
lassen, in der diese "mit sensibelsten Geräten,
an der Lautstärke der Schreie" methodisch
seinen Grad ermessen. So ein bitter-komischer Anwurf
im nie abgeschickten Brief an einen Geliebten und
zugleich ein Blick auf die Wirklichkeit(en), die
allen Protagonistinnen unerträglich geworden
ist. Alle Erzählungen sind aus der Perspektive
von Ich-Erzählerinnen geschrieben, Frauen,
denen sich die gewalttätigen Verhältnisse
der Normalität in den Körper eingeschrieben
haben. Der Focus Balàkas richtet sich auf
neun verschiedene Lebenswelten von Frauen in einer
nach wie vor von Männern, von 'männlichen'
Denk- und Wertvorstellungen dominierten Realität.
Sehr vielschichtig umkreist sie die Variationen
der Kränkungen und Gewalttätigkeiten,
die mal sehr konkret, dann subtiler oder abstrakter
beschrieben werden. Die Verletzungen werden den
Frauen beigebracht, im doppelten Sinne des Wortes.
Väter bringen sie ihren Töchtern bei,
Männern ihren jungen Freundinnen oder Ehefrauen,
Söhne ihren Müttern.
Der Körper verweigert irgendwann die bruchlose
Gelehrigkeit, das Funktionieren, "die Zufriedenheit
daran". Die in der Hierarchie von Geist und
Körper angestrebte Domestizierung des Körpers
mißlingt. "Als würden die Zellen
zerbersten, in denen die Wahrheit gefangen gehalten
ist, als würde die Wahrheit aus den zersprengten
Zellen durch mich in ein Chaos und schließlich
nach draußen rauschen." In der Verweigerung
bruchlosen Funktionierens in der gültigen
Ordnung offenbart sich zugleich das Begehren nach
Teilhabe an einer Wirklichkeit, vor deren Hintergrund
die Konturen der Persönlichkeit sichtbar werden
könnten: "Während langsam meine
linke Seite stirbt, kann ich mich vielleicht erinnern." Über
die Sprache wird um Selbstvergewisserung gerungen.
So sammelt die eine Worte, die andere spricht,
imaginär, alle Eindrücke in ein Diktaphon,
eine versucht sich "frei(zu)schreiben." Um
zu sehen, wie es ist, aber auch, um anderes zumindest
zu denken. Die Versuche des Ausdrucks müssen
an ihre Grenzen stoßen. "Also bleibt
alles, das Gesagte, das Unsagbare, was davor sein
wird, und was dahinter war, die unmögliche
Wahrheit, und die mögliche Unwahrheit, also
bleibt alles geheim." In Bettina Balàkas
oft in einer lyrischen, immer in einer sehr bilderreichen
Sprache erzählten "Krankengeschichten" nähern
sich die Frauen dieser "unmöglichen Wahrheit" an,
indem die Symptomatik des Körpers und die
Alte des Schreibens oder Sprechens nicht voneinander
zu lösen sind. Die Erzählungen sind selbst
Versuche, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben,
und es gelingt ihnen, eine weitere Grenze zu verrücken
bzw. aufzulösen: Indem Bettina Balàka
die Erzählungen sich gegenseitig erläutern
läßt, öffnet sie den Blick für
das unbedingte Ineinandergreifen verschiedener
Gewaltformen und Unerträglichkeiten.
road movies - 9 versuche aufzubrechen - so der
Titel des zweiten Erzählbandes. Neunmal die
Fragen: Von wo aus ist wohin zu gehen? Und wenn
wir uns tatsächlich bewegen, was für
Erfahrungen sind möglich? Es sind fragmentarische
Texte, in denen die Offenlegung von Sprachstrukturen,
das bloßlegende und zugleich höchst
poetische Spiel mit ihnen mehr noch als im ersten
Band dominiert. Texte, die eine konzentrierte Aufmerksamkeit
einfordern, da sie nur selten einen durchgängigen
Handlungsstrang verfolgen, in denen Balàka
erneut (Über-)Lebensversuche von Frauen umkreist.
Auch in dieser Bestandsaufnahme von Zwängen
und kaum zu Ertragendem changiert die Faßbarkeit
des Leidens, die Konkretheit, mit der Verletzungen
zugefügt und erlitten werden. Warum Maria "eine
stille frau" ist, "so abgefunden, so
klügere-gibt-nach", warum sie es nicht
vermag, sich diesem "fortfallen in eine wiederkehr,
gegenschläge(n) im unwidersprochenen kopf" zu
entziehen, ist eine Frage, deren Beantwortung leisen
Spuren folgen muß.
Fast alle Versuche verharren im konjunktivischen
Fantasieren. Konkret wie metaphorisch zu lesen,
variiert Bettina Balàka die Pole des 'hier',
des 'zuhause' und des 'woanders', der Reisebewegung.
Einer Wertung enthält sie sich, doppelgesichtig
ist bei ihr alles. So bietet das Haus eine Form
von Sicherheit, die zugleich lähmend wirkt
und illusionär ist. Die Ferne allein aber
verspricht längst keine Aufbruch: Eine Wochenendidylle
in der Natur wird sarkastisch destruiert, auf die
Empörung und aufgeilende Erregung von Urlaubern
angesichts einer Vergewaltigung "in einer
so schönen Landschaft" wirft sie einen
bitterbösen Blick. Auch die Reisenden selbst
sind 'woanders' nicht vor Gewalt geschützt.
Fortbewegung, aber wohin?
Bettina Balàka versucht zu sehen, ähnlich,
wie sie es eine Protagonistin sagen läßt: "das
zusammen-GEFÜGIGE zu trennen, und klüfte
zu überkleben". Der Tonfall ihres Schreibens
ist oft lyrisch, manchmal lakonisch oder sarkastisch,
und ihre Sprache vermag schmerzlich zu sezieren:
die offensichtlichen Verletzungen, indem sie bis
ins unerträgliche Detail benannt werden, die
in der Normalität behausten, indem sie bloßgelegt
werden. Balàka streift viele Angstorte,
und oft sind es Orte von Frauen. Es ist ihre Kunst,
Geschichten von Opferungen und Verlusten zu erzählen,
und selbst dort, wo diese Momente von den Frauenfiguren
fast gar nicht überwunden werden, sich einer
bloßen Verdoppelung der Opferung im Akt des
Schreibens zu verweigern.
Karin Fleischanderl in
kolik 7/1999
Wie man spätestens seit Adorno weiß,
gibt es kein richtiges Leben im falschen und somit
auch keinen isolierten Bereich des "echten" Sprechens,
des authentischen, unverfälschten Sprachverhaltens.
Gerade in Österreich, der Insel der Klein-
und Spießbürger, wo das falsche Bewußtsein
fröhliche Urständ feiert, haben sich
viele Autoren, von Johann Nestroy bis Elfriede
Jelinek der entfremdeten Sprache und der Entfremdung
durch die Sprache angenommen, und die Lust daran
scheint manchmal sogar noch größer zu
sein als das kritische Bedürfnis.
Das Ergebnis ist eine von Autor zu Autor variierende
Kunstsprache, eine Ansammlung fremder, entfremdeter
Worte und Zitate, kleine sprachliche und gedankliche
Kostbarkeiten, die genauso banal wie poetisch und
weise sind und offenbaren, daß die jeweiligen
Sprechenden gewissermaßen neben sich stehen
und gleichzeitig alles und nichts über sich
wissen. "Die finanzielle Unabhängigkeit
der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus",
heißt es etwa bei Ödön von Horvath,
oder "Die Frau ist dem Nichts entwendet worden
und wird mit dem Stempel des Mannes jeden Tag aufs
neue entwertet", bei Elfriede Jelinek, oder "es
ist wunderschön, wenn man die kinder mit einer
illusion, mit einem firlefanz, mit einem glitzer
dieser welt entreißen kann, nachdem man sie
tag für tag daran gefesselt hat."
Das letzte Zitat stammt von Bettina Balàka,
die sich würdevoll einreiht in diese sehr österreichische
Sprach- und Literaturtradition, und die den ironischen
Blick auf die Engen und Niederungen des Daseins
um eine eigenwillige Perspektive bereichert hat.
Ironie, so lautet eine Standard-Definition, bestehe
in der "Übersteigerung in die kennzeichnenden
Eigenschaften". Bettina Balàkas Ironie
entfaltet sich im wohlvertrauten Universum alltäglicher
Begebenheiten, und in ihrer Darstellung werden
die Personen, und vor allem auch die Verhältnisse,
in denen sie leben und leiden, zur Kenntlichkeit
entstellt: Zumeist sind es Frauen, denen in Bettina
Balàkas Erzählungen, vor allem in jenen,
die in dem Band "Krankengeschichten" gesammelt
sind, die Lebensfähigkeit abhanden kommt oder
die von Männern auf handliches Maß zusammengestutzt
werden: Da gibt es etwa die Protagonistin in der
Erzählung "Sterben, nicht stören",
die manchmal eine solche Kraftlosigkeit überkommt,
daß sie nicht einmal die Schraubverschlüsse
der Flaschen öffnen kann, weshalb sie diese
Anstrengung "ihren Männern" überlassen
muß, oder jene aus "Der Brief oder:
wie ich verfiel", der zuerst Zähne und
Haare aus- und schließlich die Hand abfällt.
Der Ich-Erzählerin aus "Rohypnol" werden
nicht nur die Zähne gerichtet, abgefeilt und
neu aufgebaut, sondern sie erträgt, freiwillig,
wie es scheint, eine nicht weniger penetrante Behandlung
durch die Männer: "Wenn Günther
sich mit einem anderen Autobesitzer oder Bankdirektor
trifft, und dieser zeigt ihm ein Foto von seiner
jungen, neuen Freundin, fragt Günther: Und
wie alt ist deine? Meine ist erst achtzehn Jahre
jung, Kinderschänder sagen sie zu mir. Solcherlei
geschieht immer in einer Bar, wo Günther mir
einen Tequila bestellt und eventuell einen zweiten,
mit einer dritten Person über mich spricht
in der dritten Person, mit der Barfrau flirtet
oder mit Frauen an der Bar, wonach er mich zu sich
nach Hause fährt und den Satz von mir verlangt:
Ich bin eine dreckige Hure, die gefickt werden
will."
Ständig sollen die Frauen in Bettina Balàkas
Erzählungen auf irgendeine Weise zugerichtet
und zugeschliffen werden, und am grausamsten hört
sich das an, wenn darüber ganz lakonisch und
im Grunde kommentarlos und ohne Übertreibung
berichtet wird, wie etwa in jener kurzen Episode über
die "indische Familie", die sich im Krankenhaus
auf der Entbindungsstation versammelt hat, wo die
Mutter nach drei Töchtern einem Sohn das Leben
geschenkt hat, und die so endet: "Und so versuchen
die Töchter, sich zu freuen mit ihren verzerrten,
schönen Gesichtern, und die Jüngste wirft
sich weinend ihrem Vater an die Brust, vergräbt
den Kopf in seinem Hemd, umklammert ihn. Doch er
sieht gar nicht hin, tätschelt mechanisch
ihr zuckendes Schulterblatt, sieht lachend hinüber
auf sein neues, erwünschtes, sein einziges
wertvolles Kind und ist glücklich dabei."
Doch was hat es zu bedeuten, wenn die Autorin direkt
auf die Episode von der indischen Familie die von
der "Ameisenhochzeit" folgen läßt?
Hier sind es nämlich die Männchen, die
verdorren, deren Flügel abblättern und
abfallen, die "hinsinken wie Flugblätter
nach einer Massendemonstration, wie Popcorn-Tüten
nach einem Massenkonzert, und dazwischen krümmen
sich die abgestorbenen Leiber der Männchen,
die die Sonne zu solch papierener Leichtigkeit
saugt, daß sie fortgeweht und verstreut werden
wie nur in der Masse sichtbarer Sand."
Zwei Bilder, die beeindrucken in ihrer archaischen
Symbolik, für sich und in Bezug aufeinander,
und die aus der Welt der ironisch durchleuchteten,
wohlbekannten Bezüge hinausweisen auf ein
geheimnisvolles anderes, das sich unserer Kontrolle
und der leichten Veränderbarkeit entzieht.
Auf die "Krankengeschichten" läßt
Bettina Balàka "road movies" folgen
- Aufbrüche, die natürlich keine sind,
weil sie nur noch tiefer hineinführen ins
kleinbürgerlich Spießige, und klingende
Namen wie trinidad und tobago, so der Titel einer
Erzählung, erinnern daran, daß das Exotische
nur die domestizierte Form des Fremden ist. In
der gleichnamigen virtuosen Erzählung wird
es einmal mehr vorgeführt, das ganze Bestiarium
mit seinen schiefen Lebensvorstellungen, das wie
Marionetten an den Fäden der eigenen Sprechblasen
hängt. Und doch gelingt es Bettina Balàka
in dieser Erzählung, in der sie von einer
souveränen Warte aus auf die enge provinzielle
Welt blickt, die in ihrer Überschaubarkeit
keine Überraschungen zu bieten scheint, in
der "der dunstabzug gar nicht alles" abziehen
kann, "wenn die mutti den kartoffeltopfdeckel
und den reistopfdeckel und den suppentopfdeckel
hebt", die Männer nicht "fremd,
sondern nur auf die jagd gehen", und die Kinder
ihren in die Karibik entflohenen Vater nie wieder
sehen werden, "außer sie besuchen ihn
einmal mit einem günstigen reiseangebot",
die Tragik einbrechen zu lassen, etwa wenn es unvermutet
heißt: "nun ist es endgültig schluß mit
verenas geschäftlicher arbeit, der kleine
franz, der hoffnungsträger, hat leukämie." Und
man stellt fest, daß hier nicht nur Personen
exemplarisch und zum Gaudium des Lesers vorgeführt
werden sollen, sondern Schicksale von Menschen,
die auch irgendwann einmal berechtigte Hoffnungen
hatten auf Glück und ein gutes Leben, nur
irgendwie haben sie es falsch angepackt, und das
Traurigste daran ist, daß sie nicht einmal
wissen, wann, wo, warum und wie sie es hätten
besser machen können.